Am Volkstrauertag gedenken wir der deutschen Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Jahr für Jahr gedenken wir also dem, was Krieg ist und welche zerstörerischen Folgen er mit sich bringt. In diesem Jahr jährte sich am 8. Mai jedoch das Ende des Zweiten Weltkriegs, so dass dieser Volkstrauertag in besonderer Weise dazu geeignet erscheint, auch des Friedens zu gedenken.
Krieg und Frieden sind Zustände menschlicher Existenz, die sich gegenseitig bedingen und gleichzeitig ausschließen. Wenn der Mensch von Krieg spricht, dann fasst er mit diesem Wort viele Bedingungen und Ereignisse zusammen, die sich überall auf der Welt immer wieder in ganz ähnlicher Weise wiederholen und erst in ihrer Gesamtheit tatsächlich Krieg bedeuten. Das Wort Krieg meint unter anderem Soldaten*innen, die Menschen erschießen, Flugzeuge, die Bomben abwerfen, Städte, die brennen, Frauen, die systematisch vergewaltigt werden, und Kinder, die Baumrinde fressen müssen. Krieg bedeutet die Zerstörung menschlicher Zivilisation, die allzu oft nur wie eine dünne Humus-Schicht über unseren Gesellschaften zu liegen scheint. Im Krieg werden geltende Normen, die das Zusammenleben innerhalb eines Volkes, aber auch zwischen den Völkern regeln, aufgehoben. Die Folge sind Chaos, Angst und die Vorherrschaft des Gesetzes des Stärkeren. Spricht der Mensch dagegen vom Frieden, dann meint er zunächst all das, was Krieg eben nicht ist. Das Wort Frieden bedeutet folglich das Fehlen von Willkür und Gewalt und dafür das Vorhandensein von Verlässlichkeit und Sicherheit. Wo Krieg ist, kann es keinen Frieden geben und umgekehrt. 75 Jahre sind seit dem letzten Krieg, den wir in Mitteleuropa erlitten haben, vergangen. Seitdem herrscht Frieden für uns.
Wenn also am 16. März diesen Jahres der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, in seiner Fernsehansprache zum Ausbruch der Corona Pandemie davon sprach, dass sich sein Land nun im Krieg gegen das Virus befände, dann sollte das vermutlich staatsmännische Stärke demonstrieren und das französische Volk auf gemeinsame Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung einschwören. Doch Vorsicht, vor allzu leichtfertiger und geschichtsvergessener Verwendung von Begrifflichkeiten. Weder Franzosen noch wir sind derzeit im Krieg, sondern versuchen lediglich die ungehemmte Ausbreitung eines Virus zu bekämpfen. Ja, die Corona Pandemie forderte und fordert ihre Opfer.
Menschen sterben, Menschen werden krank und Menschen müssen viele ungewohnte Einschränkungen hinnehmen. Aber vermutlich hätte Macron niemals den Begriff des Krieges verwendet, wenn er selbst jemals etwas anderes als den Frieden erlebt hätte. Anders als zuletzt im Ersten und Zweiten Weltkrieg haben wir zur Bekämpfung der Corona Pandemie bisher weder unsere Rechtstaatlichkeit noch unsere Menschlichkeit aufgegeben. Wir bringen uns nicht gegenseitig und auch nicht unsere Nachbarn um. Wir verheeren nicht fremdes Land und legen Städte in Schutt und Asche. Was wir dagegen erleben, ist eine weltweite Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Corona Pandemie. Forschung und Wissenschaft kooperieren, um das Virus zunehmend besser zu verstehen. Gemeinsam werden verbesserte Tests, Behandlungsmethoden, Medikamente und Impfstoffe entwickelt. Die Staatsregierungen dieser Welt haben dafür gemeinsam Geld zur Verfügung gestellt. Ja, wir haben mit Bestürzung bei der ersten Welle im Frühjahr sehen müssen, dass Grenzen auch in Europa reflexartig geschlossen wurden. Und ja, vielerorts kamen tot geglaubte Ressentiments gegen "die anderen" wieder hoch. Letztlich aber haben wir uns davon nicht überwältigen lassen, sondern uns gegenseitig mit medizinischem Personal und Material ausgeholfen.
Wir leben also immer noch in Frieden. Das ist die wichtigste Botschaft. Wir werden die Corona Pandemie und ihre Folgen irgendwann überwunden haben und beim Blick zurück trotz aller Sorgen und manch schwerem persönlichen Schicksal doch zwei Dinge positiv aus der Krise mitnehmen können: Erstens, 75 Jahre Frieden haben unsere politischen Systeme stabiler werden lassen, als viele uns das glauben machen wollen. Gerade in Deutschland zeigen sich beim Umgang mit der Pandemie die Stärken unseres demokratischen, rechtstaatlichen und föderalen Systems. Zweitens, sind wir als Gesellschaft offensichtlich über diese lange Friedenszeit hinweg zunehmend aus einem erlernten Krisenmodus ausgestiegen, der stets durch Gewalt, autoritäres Verhalten und Fremdbestimmung gekennzeichnet ist. So leiden während der Corona Pandemie tatsächlich mehr Menschen als vielleicht gedacht, unter den derzeit auferlegten Beschränkungen zum Infektionsschutz oder können die Beschneidung ihrer individuellen Freiheit nicht akzeptieren. Unbestimmte Ängste vor einer möglichen Infektion oder eines zukünftigen Arbeitsplatzverlustes belasten vielleicht stärker als die Krankheit selbst. Durch viele Jahrzehnte des Friedens konnten wir uns an zunehmende Gewaltlosigkeit, hohe soziale Sicherheit, Planbarkeit des Lebens sowie an ein nie gekanntes Maß individueller Freiheit gewöhnen.
Die Zeit ist kein punktuelles Ereignis, sondern eine individuell empfundene Zeitspanne. Wir haben uns zwar darauf geeinigt, dass im Kalender der 8. Mai 1945 der "Tag der Befreiung" ist, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg beendet wurde. In Kopf, Herzen und Seele der Deutschen hat dies aber vermutlich sehr viel länger als nur einen Tag gedauert und könnte sich bei dem einen schon lange vor dem 8. Mai, bei dem anderen erst lange Zeit danach abgespielt haben. Genauso individuell und häufig unentschlossen dürften viele Menschen bei der Bewertung des 8. Mais als Tag der Niederlage oder der Befreiung gewesen sein. Wenn wir aber den Blick auf die lange Zeitspanne richten, die seither verstrichen ist, dann wird vieles klarer. Wir Deutschen haben den Krieg auch im übertragenen Sinne lange hinter uns gelassen und den Frieden lieben gelernt. Wir haben uns zu einer freieren, auch angstfreieren Nation entwickelt, die mehr Individualität zulassen und im Umgang mit sich und anderen rücksichtsvoller sein kann.
Blicken wir also optimistisch in die Zukunft und vertrauen darauf, dass sich diesen Frieden niemand mehr nehmen lassen wird.